TAGEBUCH

Erinnerungen an Otto Bufonto

Berliner Zeitung vom 28.12.1998
Feuilleton - Seite 13
Heinz Putel

Es ist eine alte Geschichte aus alten West-Berliner Tagen. Die Frontstadt des Kalten Krieges, wie Karl Eduard von Schnitzler sie gerne nannte, schlief friedlich im Schatten der Mauer. Der Gedanke an den Ostteil der Stadt und seinen Sozialismus war längst verblaßt und das Viermächte-Abkommen noch nicht ratifiziert, das den Bürgern der "selbständigen politischen Einheit West-Berlin" wieder Reisen in die Hauptstadt der DDR erlaubte. Was man von der DDR wußte, wußte man aus dem Fernsehen; manchmal sah man auch Schnitzler persönlich, nämlich beim Einkaufen in dem Delikatessengeschäft "Nöthling" oder wenn er mit seinem schönen Wagen herumfuhr. Karl Eduard von Schnitzler bewegte sich im Westen; aber die Zehlendorfer Oberschüler, die ihm zuwinkten, waren weit davon entfernt, auf irgendwelche Widersprüche im Sozialismus zu schließen. Der "Schwarze Kanal" galt ihnen als Folklore; im übrigen waren sie mit den Widersprüchen des kapitalistischen Systems beschäftigt. Denn selbstverständlich war es für Schüler und Studenten Anfang der siebziger Jahre Ehrensache, linksradikal zu sein; die Frage war nur, ob eher maoistisch, trotzkistisch oder anarcho-syndikalistisch. Die revolutionären Splittergruppen schossen überall an den Gymnasien ins Kraut; die radikalste von allen war die Jugendorganisation der FDP. Aus Gründen der internationalen Solidarität pflegte man gelegentlich Schultische anzuzünden. So war das, als plötzlich Otto Bufonto auftauchte. Otto Bufonto lebte in der Umgebung revolutionärer Drucksachen, auf Flugblättern, Aufklebern, in Graffiti und winzigen Einkerbungen auf Briefkästen. "Otto Bufonto lebt", "Otto Bufonto was here", "Freiheit für Otto Bufonto" hieß es dort; man hielt ihn ohne Frage für einen Genossen von Che Guevara oder einen Terroristen der RAF. Aber Otto Bufonto, den niemand gesehen hatte, wandelte sich; er verkündete: "Otto Bufonto liebt auch dich", "Otto Bufonto wacht", "Otto Bufonto schläft nicht". War er ein neuer Messias oder der Große Bruder aus Orwells Roman? Als eine Schülerzeitung wagte, ein Gespräch mit Bufonto zu erfinden, hieß es auf einem Graffito barsch: "Otto Bufonto gibt keine Interviews". Bald darauf verstummte er. Die ganze Kampagne war ohne Zweifel ein Ulk; aber ein intelligenter. Denn in der Bufonto-Figur parodierte sich die seltsame, zwischen christlichen Resten und politischer Ideologie vagabundierende Erlösungssehnsucht, die damals den Westen beherrschte. Mit Bufonto gab der Westen zu verstehen, daß die Revolution für ihn nur ein romantisches Indianerspiel, in Wahrheit aber der Kapitalismus unsterblich und unentrinnbar ist.